Im Kapitel "Digitalisierung" habe ich beschrieben, dass die technologische Basis für eine durchgehende End-to-End User Experience ein ganzheitlicher Ansatz mit einer durchgängigen End-to-End Architektur ist.
Die gesamte Automobilindustrie befindet sich hier gerade im radikalen Umbruch. Neue Player kommen mit ganz revolutionären Ansätzen, nicht nur für Fahrzeuge, sondern auch für eine komplette User-Experience inklusive Smart-Mobility mit entsprechenden End-to-End Konzepten.
In unserer Branche wurde in den letzten Jahrzehnten die "Car Experience" Stück für Stück perfektioniert. Betrachtet man die digitale User Experience in unserem täglichen Leben so stellt man fest, daß diese nicht immer durchgängig und optimal in die Car Experience integriert ist.
Die grosse Aufgabe besteht jetzt darin, den Schritt von der Car Experience zur End-to-End User Experience zu machen, bei der der Kunde im Mittelpunkt steht und sich das Fahrzeug so optimal wie möglich in das Leben und die Bedürfnisse der Kunden integriert und nicht umgekehrt.
Dazu müssen jedoch ganze Welten zusammenspielen, die sich über sehr viele Jahre weitestgehend getrennt voneinander entwickelt haben. Ich meine hier die Welt der Embedded Elektroniksysteme im Fahrzeug und die Welt der Cloud- und Backendsysteme.
Der nächste grosse Innovationshub wird nur mit Cloud, Daten und dem passenden End-to-End Geschäftsmodell möglich sein. Die dafür erforderliche End-to-End Architektur reicht von gemeinsamen Cloud-Backends (wie z.B. HERE) über das OEM-eigene Backend, die 4G/5G-Übertragunsstrecke bis zum Zugangspunkt, der Connectivity-Unit im Fahrzeug. Von der geht es über die Gigabit-Ethernet Vernetzung zu den Domänenrechnern mit angebundenen intelligenten I/O-Einheiten bis hinunter auf die Halbleiterebene und dann auch umgekehrt die gesamte Strecke wieder zurück. Beim zukünftigen 5G Netz erfolgt der gesamte Durchlauf mit typ. fantastischen 1ms Latenzzeit.
Die Botschaft lautet: die Automobilindustrie braucht hier eine massive Weiterentwicklung der über viele Jahrzehnte gewachsenen E/E-Architektur auf Basis Mircocontroller hin zu einer End-to-End Computing-Plattform im Fahrzeug, einer Art Großhirn. Die Zeit dafür ist absolut reif.
Im Rahmen der menschlichen Evolution hat sich über Millionen von Jahren herauskristallisiert, dass die Sensorik und Aktuatorik des Menschen oft unbewusst im Körper abläuft. Das vegetative Nervensystem steuert das ganze. In der Analogie zum Fahrzeug wäre das die heutige E/E-Architektur auf Basis der Mikrocontroller.
Das Großhirn, das sich im Laufe der Jahrmillionen zunehmend herausbildete, setzte den Menschen letztendlich an die Spitze der Evolution. In der Analogie zum Fahrzeug wäre das nun die zentrale Computing Einheit.
Es kommt aber noch ein weiterer wichtiger Punkt hinzu. Die Menschen haben sich nicht nur als Einzelperson durchgesetzt, sondern ganz besonders stark dann, wenn sie in Gruppen aufgetreten sind.
Verglichen wiederum mit der Fahrzeugwelt ist das die Schwarmintelligenz, die nahtlose Vernetzung des Fahrzeugs mit dem Kunden, der gesamten Infrastruktur und anderen Fahrzeugen und IoT-Devices.
Alle diese Veränderungen haben gewaltige Auswirkungen auf den Automobilhersteller und seine gesamten Zulieferer, da sehr viele neuen Technologien und Kernkompetenzen dafür erforderlich sind, die klassisch so nicht ausreichend vorhanden sind und weitestgehend aus der Elektronik-, Software-, Halbleiter- und Cloudindustrie stammen.
Diese Tatsache bildet in den angestammten Firmen ein erhebliches Spannungsfeld zwischen "neuer und alter Welt" und steht mitten im Zentrum der gesamten Umbruchphase - der Disruption.
So wie der Mensch das Lernen gelernt hat, müssen auch die Systeme das Lernen lernen. Machine-Learning und neuronale Netze sind daher wichtig. Denn so können die Systeme wie beim Gehirn durch Eindrücke und phänomenologische Verarbeitung intelligenter werden und sich an Situationen anpassen.
Das bedeutet einiges: Alle Elemente in der gesamten Architektur, und zwar nicht nur bis zum Großhirn, nicht nur in den Backends, sondern teilweise auch bis hinunter in die kleinsten Steuergeräte müssen über Online-Updates austauschbar sein, und die Sicherheitsmechanismen müssen über die Laufzeit hochskaliert werden können.
Mit dem Ansatz einer zukünftigen End-to-End Computing-Plattform kann das sehr gut abgebildet werden, denn das Fahrzeug das ausgeliefert wurde, wird durch kontinuierliche Updates nach einigen Jahren im Betrieb eine viel höhere Intelligenz besitzen als zum Zeitpunkt der Auslieferung.
Was bedeutet das alles in Bezug auf die Steuergeräte und die E/E-Architektur ?
Wir werden weiterhin viele und intelligente I/Os haben, aber die funktionale Seite wird zunehmend ins Großhirn, also in die Domainenrechner verlagert. Diese Domainenrechner verschmelzen step by step zu einem einzigen Großhirn, der zentralen Computing Einheit, die aus zwei Hälften besteht. Denn eine Hälfte alleine wird aus Redundanzgründen nicht ausreichen. Die beiden Gehirnhälften sind dann analog zu den Nervenbahnen über Hochleistung-Datenverbindungen miteinander verbunden.
Über welchen Zeithorizont sprechen wir hier ?
Das wird ein sukzessiver Prozess sein, zumal dieser Ansatz auch nicht ganz neu ist, denn in der Infotainmentwelt ist man damit schon länger unterwegs. Noch vor fünf oder sechs Jahren war das Infotainment noch ein Verbund aus sechs bis zehn Steuergeräten, die mittlerweile alle in einem Zentralrechner, der Mainunit, integriert sind. Als nächster Schritt entwickelt sich daraus gerade ein "Cockpit-Computer" der das gesamte digitale Interieur aus einem Zentralrechner heraus treibt - inklusive aller Displays.
Den MIB für Infotainment und das zFAS für die Fahrerassistenzsysteme und das pilotierte Fahren, welche ich in meiner Zeit bei Audi entwickeln konnte, kann man als eine Art Vorläufer dieser Großrechner betrachten. Dabei spielen einige Technologien eine zentrale Rolle. Das Thema Gigabit-Ethernet wird eine wesentliche Schlüsseltechnologie sein, wobei die Übertragungsgeschwindigkeit auf bis zu 80 bis 100 Gigabit/s einmal ansteigen wird, wenn auch alle Displays und Kamera im Fahrzeug darüber vollständig vernetzt werden. Hierfür benötigt man die passenden Switches und Übertragungsstrecken. Twisted-Pair wird bei so hohen Bandbreiten nicht mehr funktionieren.
Besonders wichtige Themen werden eine funktionierende Virtualisierung und eine sich permanent weiterentwickelnde End-to-End Security. Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der Datacenter und des Cloudcomputings war die Beherrschung der Virtualisierung. Neben Cloud-Technologien werden der Einsatz von Machine-Learning und Sensorfusion sehr bedeutungsvolle Themen werden. Auch ohne Datenkompression wird es nicht gehen, denn es werden Vorverarbeitungen auf der Clientseite im Fahrzeug durchgeführt werden müssen um die Datenmengen zu beschränken. Einfach nur "wild" alles in die Cloud streamen wird nicht funktionieren.
Die gesamte Technologiekette End-to-End, auch die Zusammenarbeitsmodelle mit den Tier 1 Lieferanten und Technologiepartnern werden sich massiv verändern. Einen derart großen Umbruch hatten wir in unserer Branche noch nie. All das passiert jetzt mit riesiger Geschwindigkeit.
Bei solchen Architektur Umstellungen muss man sich immer ein Einsatztarget definieren. Da bietet sich bei jedem OEM immer der nächste Baukasten an. Wenn die neue Architektur erst einmal in einem entsprechenden Fahrzeug umgesetzt ist, lasse sich darauf aufbauend noch viele Funktionalitäten nachträglich aufsetzen.
Vorher erfolgen Zwischenschritte. Die Branche ist es inzwischen gewohnt, dass solche Schritte, wie im Infotainment, auch in anderen Domänen vorher einfließen damit es keinen Big-Bang mit der neuen Plattform gibt und man das Risiko minimiert. Bestimmte Technologien werden vorher einfließen und im Proof-of-Concept die Serientauglichkeit nachweisen.
Was kommt auf die Zulieferer zu ?
Die Zulieferer sind es heute gewohnt, in ihrem Businessmodell eine Funktion (in Hardware und Software) in einem System oder Steuergerät anzubieten – möglichst noch in Kombination mit einer Sensorik und Aktuatorik. Das wird sich ändern, und dazu muss es einen intensiven Dialog zwischen OEM, Zulieferer und weiteren Technologiepartnern (z.B. Halbleiterhersteller) geben müssen.
Wenn alte Strukturen aufgebrochen werden und Steuergerät und Software z.B. nicht mehr aus einer Hand kommen, dann müssen sich auch die Businessmodelle der OEMs entsprechend weiterentwickeln.
Software muss dann separat eingekauft werden und muss gegenüber dem Zulieferer aber auch einen fairen Wert bekommen. Heutzutage lieget in den meisten Fällen der Schwerpunkt ganz klar auf dem Gebiet der Hardware.
Im Infotainment gibt es zum Teil solche Modelle schon, aber die Player kommen dabei zum Teil aus der Consumerwelt.
Welche Bedeutung hat die End-to-End Security in diesem Zusammenhang ?
Wenn das Fahrzeug komplett Teil der Cloud ist und viele Funktionen nur noch durch einen zusätzlichen Online-Anteil verbessert werden, dann muss auch sichergestellt werden, dass End-to-End das absolut höchste Niveau an Sicherheitstechnik und die besten Technologien zum Einsatz kommen: vom Backend bis hinunter auf die Sensor- beziehungsweise Steuergerätebene im Fahrzeug. Da kann man viel aus der Cloud-Welt lernen und auch übernehmen. Einiges muss man aber auch noch neu schaffen und es muss sichergestellt werden, dass die erforderlichen Sicherheitsmechanismen während der Laufzeit des Fahrzeugs permanent weiterentwickelt und upgedatet werden. Denn jeder Schlüssel, jeder Sicherheitsmechanismus zwischen Backend und dem Fahrzeug hat nur eine gewisse Haltbarkeit und die ist in der Regel geringer als die Nutzungsdauer eine Fahrzeugs.
Gerade das Thema Intrusion-Detection ist ganz wichtig – und zwar nicht nur an den Interfaces sondern auch in den einzelnen Komponenten, das können sogar Sensoren sein. Wenn das System Muster feststellt, die nicht plausibel sind oder gar auf Schadsoftware hindeuten, dann müssen die Sicherheitsmechanismen greifen. So können die Fahrzeuge schnell auf einen Angriff reagieren. Durch ein Machine-Learning über die Flotte hinweg lässt sich das System weiter verbessern.
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